Lustigerweise war das gestrige portugiesische Omelette mit Tomaten heute Bestandteil des französischen Frühstücks – und Lorenz nahm es mir wiederum ab, so dass ich die Toasts, das 50-Gramm-Croissant (stand wirklich so auf der Menükarte!) und den heute endlich heissen Milchreis (wir waren bereits um 07.58 Uhr am Tisch und haben zum ersten Mal das Servieren des Frühstücks erlebt) geniessen konnte – natürlich begleitet von einem Schwarztee mit viel Zucker und ohne die eigentlich notwendige Milch.
Kurz vor neun Uhr waren unsere Habseligkeiten verstaut und der Kontrollrundgang gemacht, so dass Lorenz mit der heutigen Etappe beginnen konnte – sie führte uns zuerst um das Zentrum von Київ (Kiew) herum auf die wegen der Fussball-Europameisterschaft 2012 gebaute perfekte Autobahn Richtung Polen.
Als erstes kamen wir an der Stadt Житомир (Schytomyr) vorbei. Diee Stadt hat 270'000 Einwohner und besteht seit dem 7. Jahrhundert. 1320 kam die Stadt zu Litauen und im 16. Jahrhundert zum vereinigten Königreich Polen-Litauen. In dieser Zeit siedelten sich viel Juden in der Stadt an – Ende des 19. Jahrhunderts waren 30% der Bewohner jüdisch. Deshalb liess die russische Regierung hier und in Vilnius als einzige Städte Seminare für Rabbiner einrichten. Als am 9. Juli 1941 die Wehrmacht in Житомир (Schytomyr) einmarschierte wurde sie von einem einer SS-Einsatzgruppe begleitet, die wenige Tage danach alle Juden der Stadt ermordete.
Die nächste Stadt war Новоград-Волнисыкий (Novohrad-Volynskyj), welche unter dem Namen Woswjagel genau Hundert Jahre vor dem Basler Erdbeben, 1256, zum ersten Mal erwähnt wurde. Im folgenden Jahr wurde sie vom galizischen Fürst Daniel Romanowitsch niedergebrannt. Ihren heutigen Namen erhielt sie erst, als sie 1793 unter russische Herrschaft kam. Als strategisch wichtiger Ort wurde sie im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht eingenommen und war von 1941 bis 1944 besetzt. Nach ihrer Rückeroberung durch die Rote Armee war sie grossenteils zerstört.
Weiter westlich fuhren wir an Ривне (Rivne) vorbei. Sie hat eine bewegte Geschichte und wurde 1283 erstmals erwähnt. Im Ersten Weltkrieg und dem folgenden russischen Bürgerkrieg war sie unter Kontrolle der russischen, deutschen, ukrainischen, bolschewikischen und polnischen Truppen und war im Frühling 1919 kurze Zeit sogar Hauptstadt der Volksrepublik Ukraine. Ab 1921 gehörte sie zu Polen und wurde nach der Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee der ukrainischen sozialistischen Volksrepublik angeschlossen.
Nach der Panzerschlacht bei Dubno-Luzk-Rivne wurde sie am 28. Juni 1941 von der Wehrmacht erobert. Damals waren rund 60'000 Einwohner, die Hälfte der Bevölkerung, Juden. 23'000 von ihnen haben die Deutschen am 8. und 9. November 1941 im Wald von Sosenski erschossen. Die restlichen Juden wurde zuerst in ein Ghetto gesperrt, dann nach Kostopil deportiert und dann ermordet.
Heute hat die Stadt etwa 250'000 Einwohner.
Hinter Ривне (Rivne) türmten sich schwarze Gewitterwolken auf und kurz nachdem ich Fotos davon gemacht hatte, überzog uns ein Hagelsturm der Sonderklasse, so dass wir nur noch im Schritttempo fahren konnten und die Strassen augenblicklich geflutet waren. Es war ein Naturschauspiel besonderer Art und ich kam aus dem Staunen kaum heraus.
Die letzte Stadt auf unserer Route durch die Ukraine war Львив (L'viv), das ehemalige Lemberg, welches 1342 erstmals erwähnt wurde. Sie hat heute 730'000 Einwohner.
Eigentlich wollten wir an der Stadt vorbei fahren, aber unser Navigationsgerät hat uns mitten ins Zentrum geführt und es war ein kleines Meisterstück, dass wir da wieder lebend heraus gekommen sind…;) Besonders das in die Jahre gekommene Kopfsteinpflaster hat uns fast den letzten Nerv gekostet und das Fahrzeug auf eine harte Probe gestellt.
L'viv liegt auf der Europäischen Hauptwasserscheide – südlich der Stadt fliessen alle Flüsse ins Schwarze Meer, nördlich davon in die Ostsee.
L'viv ist seit Jahrhunderten eine Multikulturelle Stadt mit Polen, Ukrainern, Juden, Deutschen, Österreichern, Armeniern, Russen, Weissrussen. Die Altstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe und weist Bauwerke aus Renaissance, Barock, Klassizismus, Jugendstil und Art Déco auf. Sie hat scheinbar ein mediterranes Flair, weshalb sowjetische Filme hier gedreht wurden, die eigentlich in Italien oder Südfrankreich spielten.
Die Stadt hat eine altrussische, polnische, österreichische, abermals polnische, sowjetische und ukrainische und vor allem jüdische Geschichte, welche sehr vielfältig und interessant ist – zu vielfältig als dass ich sie hier wiedergeben könnte. Im Internet finden sich viele Quellen dazu.
Heute ist sie vor allem wegen der von Kriegszerstörungen und nachkriegszeitlichen Eingriffen verschont gebliebenen und fast geschlossenen Bebauung der Altstadt aus verschiedenen Epochen ein beliebtes Reiseziel.
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