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Dienstag, 16. Juli 2019

16. Juli 2019 | Київ (Kiew) | sonniger zweiter Stadt-Tag

Eigentlich hätte es schon seine Vorteile, im Hotel das Frühstück einzunehmen...aber wegen meiner etwas speziellen Vorlieben was die erste Mahlzeit am Tag angeht habe ich so meine liebe Mühe und würde eigentlich lieber im Lastwagen Brot von gestern auftoasten und mir meinen Schwarztee mit Milch(pulver) und viel Zucker selber brauen. Heute rettete mich Lorenz indem er mir seine zu seinem englischen Frühstück gehörenden Crêpes (?) anstelle meines portugiesischen Omelettes mit Tomaten rüberschob. Kalte Crêpes mit Butter und Confiture sind zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber für einen Gumfischnitten-Liebhaber wie mich immer noch die bessere Wahl. Ich weiss, ich bin etwas kompliziert und sehr wählerisch – aber schliesslich habe ich mich schon sehr gemacht was das Essen am Morgen angeht, denn zu Hause gibt’s eigentlich meist nicht mehr als einen Kaffee zur ersten Zigarette.

Gassen-Eingang am Boulevard

Heute begrüsste uns wieder die Sonne und liess einen schönen Tag in der Stadt erwarten...und sie enttäuschte uns nicht, so dass wir mit T-Shirt ausgerüstet in den zweiten Teil unseres Kiew-Abenteuers starten konnten. Der Taxifahrer, der uns ins rund 10 km entfernte Zentrum fuhr, gab so richtig Gas! In seinem klapprigen Karren brauste er auf der Zubringerautobahn links und rechts an den langsamer fahrenden Fahrzeugen vorbei und schlug jeden Geschwindigkeitsrekord. Begrenzungen der Geschwindigkeit interessieren hier grundsätzlich nicht und 100 km/h innerorts liegen durchaus drin. Dafür dass Verkehrsregeln – sofern sie überhaupt existieren – grundsätzlich nicht befolgt werden ist der Verkehr sehr gesittet und es regt sich niemand auf und tut seinen Missmut mit Hupen oder Händeverwerfen kund.

Euromaiden-Mahnmal

Wir stiegen beim Eingang zumWalerij-Lobanowskyj-Stadionim Zentrum aus und bildeten uns an einer Informationstafel zuerst über die Umstände und den Verlauf der Unruhen im Zusammenhang mit dem «Euromaidan», den bürgerkriegsähnlichen Protesten ab dem 21. November 2013. An vielen Orten in der Stadt sind Mahnmale aus Panzersperren aufgestellt, welche an dort verstorbene Demonstranten und denkwürdige Ereignisse erinnern sollen.

Maidan, Westseite

Die Proteste entzündeten sich an der überraschenden Mitteilung der damaligen ukrainischen Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der EU – also die Annäherung an Europa – nicht zu unterschreiben. Die Eskalation begann, als am 1. Dezember friedliche Demonstrationen von einer Spezialeinheit der Polizei mit exzessiver Gewalt aufgelöst worden waren. Auf dem Maidan-Platz versammelten sich Hunderttausende (einige Medien berichteten von über einer Million!) Demonstranten und die Proteste dauerten trotz Räumungsversuchen an. Eine wichtige Rolle nahm damals der ehemalige Profiboxer Vitali Klitschko, der heutige Bürgermeister von Kiew, ein als er zusammen mit anderen Persönlichkeiten versuchte, die Eskalation zu verhindern. Als am 18. Februar 2014 die Lage eskalierte kamen über 80 Menschen beim Einsatz der «Sicherheits»-Kräfte ums Leben, was zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Durch Vermittlung mehrerer europäischer Aussenminister konnte am 21. Februar ein Vertrag zur Beilegung des Konflikts unterzeichnetwerden, worauf der bisherige Präsident der Ukraine, Janukowitsch, überstürzt ins Exil flüchtete. Zu dieser Zeit begann die Besetzung der Krim durch die russische Armee und der bewaffnete Konflikt in den Oblasten Donezk und Luhansk zwischen von Russland unterstützten Milizen und ukrainischen Kräften. Russland unterstützte die Eskalation rund um den Euromaiden aktiv in der Absicht, eine destabilisierte Lage im Land für die Annexion der rohstoffreichen Gebiete Donezk und Luhansk sowie der strategisch wichtigen Krim auszunutzen. Der Konflikt dauert an und ist weit von einer Lösung entfernt. Faktisch sind die Ukraine und Russland im Krieg ohne sich diesen je erklärt zu haben.
Wir merkten diesan der Tatsache, dass unsere Rubel in 200er-Scheinen hier in der Ukraine nicht gewechselt werden, denn diese neue, mit einem offensichtlich absichtlich provokanten Bild eines Orts auf der Krim versehenen Geldscheine werden aus verständlichen Gründen von keiner Wechselstube oder Bank in der Ukraine angenommen.

Maidan, Ostseite mit Hotel Ukraine

Ich zeigte Lorenz anschliessend den Barber-Shop, den ich gestern in der Nähe des zentralen Maidan-Platzes erspäht hatte, denn er wollte sich nach dem abenteuerlichen Schnitt von Tiflis einen neuen, etwas gefälligeren Haarschnitt verpassen lassen. Während ich gemütlich eine Cola in einem Strassencafé trank verpasste ihm ein junger Coiffeur einen schnittigen Schnitt.


Bevor wir uns ins Getümmel der Massen auf dem Khreschatyk-Boulevard stürzten stärkten wir uns bei «Star Burger» mit einem exquisiten Hamburger – hier erhält man jeweils grüne Latexhandschuhe wenn man einen Hamburger bestellt, was gerade in diesem Lokal, das als Leitfarbe Grasgrün hat, sehr Operationssaal-mässig aussieht. Dr. Lorenz mit seinem schniecken Haarschnitt machte sich aber ganz gut mit seinen grün gewandeten Händen...lol

Lampen bei Star-Burger



Nach der Stärkung schlenderten wir noch ein paar Hundert Meter gemeinsam über den Boulevard aber ich schwenkte bald schon ab, denn ich wollte mir noch ein paar historische Sehenswürdigkeiten antun.

Goldenes Tor

Die erste war das sogenannte Goldene Tor, ein Stadttor, das der Kiewer Grossfürst Jaroslaw der Weise nach dem Vorbild des Goldenen Tors in Konstantinopel von 1017 bis 1024 hat errichten lassen und das heute in rekonstruiertem Zustand mitten in der Altstadt steht. Eine Statue Jaroslaws steht gleich davor.
Die Dimensionen dieses Stadttors sind imposant und es dominiert das Geviert und den Park, in dem es steht.


Unweit des Goldenen Tors liegt die Sophienkathedrale, die 1937 ebenfalls von Jaroslaw dem Weisen in Auftrag gegeben worden war. Sie steht auf einem grossen Gelände, das seit 1990 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört und ist ebenfalls nach einem Vorbilds aus Konstantinopel (Istanbul) erbaut: der Hagia Sophia.

Jaruslaw

Es ist ein sehr eindrücklicher Bau: eine siebenkuppelige fünfschiffige Kirche, die Aussen nach einer russischen Barockkirche aussieht und Innen eine mit originalen Freskan aus dem 11. Jahrhundert geschmückte romanische Kathedrale ist. Der 1054 verstorbene Jaroslaw wurde in einem heute noch erhaltenen Sarkophag in der Kirsche beigesetzt.

Sarkophag des Jaroslaw

Als im späten 13. Jahrhundert die Mongolen in Kiew einfielen und die Stadt zerstörten verloren Stadt und Kirche an Bedeutung, was durch die Einfälle der Krimtataren noch verschlimmert wurde. Die Kirche wurde immer stärker zerstört und erst im 17. Jahrhundert wurde sie durch den italienischen Architekten Octaviano Mancini aussen neu gestaltet und aufgebaut. Ein zweiter Neuaufbau war nach einem Brand, der die Holzstrukturen zerstört hatte, im gleichen Jahrhundert notwendig, bei dem sie ihr heutiges Aussehen im ukrainischen Barockstil erhielt. Das Innere blieb zum Glück erhalten, so dass die Sophienkathedrale heute als eines der herausragendsten Bauwerke europäisch-christlicher Kultur gilt.

Bohdan-Chmelnyzkyj-Denkmal und Glockenturm

Der dominante Glockenturm, der als eines der Wahrzeichen Kiews gilt, wurde auch während dieses zweiten Neuaufbaus errichtet.

Sophienkathedrale
Sophienkathedrale und Glockenturm


Während der Sowjetzeit wurde das Gebäude als kirchliche Einrichtung geschlossen und als Bibliothek genutzt. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Kirche wieder der orthodoxen Kirche übergeben wurde entfachte sich innerhalb der orthodoxen Kirche ein Streit über die Zugehörigkeit der Kirche: Kiewer oder Moskauer Patriarchat oder gar ukrainische katholische Kirche war die Frage. Angesichts der Streitigkeiten schloss der ukrainische Staat die Kirche wieder für kirchliche und liturgische Zwecke – heute ist sie Museum. Es existieren aber Bestrebungen, sie wieder als Kirche zu nutzen, denn ihre Geschichte als Hauptkirche aller Rus ist unumstritten.

Modell der Sophienkathedrale, 11. Jahrhundert

Modell der Sophienkathedrale, 21. Jahrhundert

Kiew wird auch als die «Mutter aller Städte der Rus» bezeichnet, wobei mit «Rus» einerseits das Volk, aus dem die heutigen Russen hervorgegangen sind, als auch das Gebiet der heutigen Staaten Ukraine, Weissrussland und Russland bis zum Uralgebirge gemeint ist. Hier in der Ukraine liegen die Wurzeln dieses Volks. Hier wurde es christianisiert, hier wurde mit Kiew die erste grosse Stadt gebaut. Hier wurden erste Gesetze aufgestellt. Von hier aus entwickelte sich das, was wir heute als «Russland» verstehen. Die Geschichte dieses Lands und dieses Volks ist sehr umfangreich und kompliziert, was mir als Westeuropäer in keiner Weise bewusst war, werden diese Aspekte doch in unserer nach Westen ausgerichteten Kultur komplett ausgeblendet und vernachlässigt. Hier blühte in einer Zeit, in der Zentraleuropa im Chaos, in Kriegen, in Krankheiten und in der Dunkelheit versank eine Kultur, von der ich keine Ahnung hatte und erst durch das Reisen nach Zentralasien und Russland wurde mir bewusst, wie einseitig und selbstzentriert unsere Geschichtsschreibung und deren Vermittlung aufgebaut sind.






Mein weiterer Weg durch die Stadt führte mich zur St.-Andreas-Kirche und zum dazugehörenden Andreassteig. Auch diese Kirche ist sehr schön renoviert/rekonstruiert und der recht steile Andreassteig wirkt neben den monumentalen Gebäuden im Rest der Stadt malerisch und pittoresk. Hier ist die Dichte an Touristen sehr hoch und entsprechend sind hier auch viele Souvenierstände und Strassencafés zu finden. Am Fuss des Andreashügels liegt das Quartier Podil, eines der ältesten Quartiere der Stadt, wo heute eine grosse Fussgängerzone liegt.

Andreassteig

Ich war aber bereits so müde vom vielen Gehen, dass ich mich entschied, nach einem erfrischenden Bier in einem Strassenrestaurant ein Taxi zum Hotel zurück zu nehmen und mich ein wenig auszuruhen. Sehr zufrieden nach einem schönen und interessanten Tag genoss ich die Ruhe gegen Abend und den Ausblick auf den Dnjepr aus meinem Hotelzimmer...so angereichert mit Eindrücken freue ich mich, morgen den letzten Teil unserer Rückreise in Angriff zu nehmen und bald die Heimat und all die lieben Menschen dort wieder zu sehen.

St.-Andreas-Kirche

Andreassteig



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