Ein kühler, regenreicher Tag begrüsste mich am Morgen um 8 Uhr, dicke Wolken hingen über dem Schulbuchverlag und vereinzelt fielen Tropfen aus dem dunkelgrau-weissen Himmel auf den grob geteerten Platz, der für die geringe Tätigkeit, die darauf stattfindet viel zu gross bemessen ist.
Auch der Schwarztee mit Milch(pulver) und viel Zucker änderte nichts an der Tatsache, dass uns womöglich ein weiterer Wartetag auf diesem scheinbar uninteressanten Gelände bevorstand.
Im Gegensatz zu den vergangenen Wochenendtagen zeigte sich jedoch schon am frühen Morgen eine verhaltene Geschäftigkeit in Form der Anwesenheit einiger Mitarbeiter, die palavernd und in langsamen Schritten über das Gelände schlenderten. Es sollte die einzige Tätigkeit sein, die an diesem Tag stattfand, ausgenommen vom Bewegen einiger Fahrzeuge, darunter die des Dienstwagens des Direktors, der sich einen persönlichen Chauffeur zur Seite gestellt hat, der ihn zu seinen Kunden, den Schulen in der Umgebung Samarkands, fährt und jeweils gelassen wartet bis der Chef seine Angelegenheiten erledigt hat. Uns hilft er gelegentlich durch das Übersetzen im Gespräch einem anderen Mitarbeiter und gibt uns hilfreiche Tipps wenn wir etwas suchen wie heute Lorenz, der eine Batterie für sein Victorinox-Taschenmesser mit eingebauter Uhr, Altimeter, Thermometer und Datumsanzeige kaufen wollte.
Schulbuchlager, nicht temporär, sondern permanent |
zukünftiges Toilettenpapier |
Hier, beim grossen Depot für Schulbücher, fahren täglich Abordnungen einzelner Schulen mit im Kofferraum verstauten Säcken aus gewobenem Kunststoff wie sie für grobes Schüttgut verwendet werden, in denen alte, gebrauchte und nicht mehr brauchbare Schulbücher verpackt sind, vor. Diese können sie auf dem Gelände kostenlos gegen neue, jedoch nicht mehr ganz druckfrische Bücher austauschen. Die alten Bücher werden hier so lange gesammelt, bis eine genügend grosse Menge zusammen gekommen ist, die sich lohnt abtransportiert und zu Toilettenpapier verarbeitet zu werden. Man kann also schliessen, dass in der Umgebung von Samarkand sogar der Hintern mit Bildung versorgt wird...ob das einen Effekt auf die Bildung der Menschen hat ist meines Wissens nicht wissenschaftlich geklärt, ich vermute aber, dass keine – wenn überhaupt messbare – nachhaltige Auswirkung nachgewiesen werden könnte.
die zwei alten Gesellen |
Dass sie aber einmal, vor der Linse eines spontan in der Gegend verweilenden, auf ein bestelltes und trotz gegenteiliger Versprechen nicht termingerecht eingetroffenes Visum wartenden Schweizer Lehrers zu neuem Glanz und bedingter Glorie erwachen würden, hatten sich die beiden traurigen Gestalten aus Stahl und Gummi kaum erträumt. Dieser Lehrer, ich, der vom Kreislauf usbekischer Schulbücher angezogen mit seiner Kamera auf dem mit Tonnen immergleichen Wissens angefüllten Gelände auf Sujetsuche auf sie aufmerksam geworden ist, verhalf ihnen in seiner durch das Warten angereicherten und von leichter Langeweile angesäuerten Suche nach Aufregendem zu neuem Ruhm. Ob der langsame, witterungsbedingte Tod der beiden Lastwagen noch vor der Einführung des Internets in Usbekistan eingetreten war lässt sich heute kaum mehr beantworten. Aber wie so viele Objekte, die der Lehrer, ich, vor die Linse bekam, ablichtete, deren gespeicherte Pixeldaten zu digitalen Gemälden entwickelte, erhielten auch diese beiden Gestalten ihren wohlverdienten Ruhm auf einem Medium, das zu ihrer besten Zeit allenfalls angedacht, womöglich aber noch gar nicht im Entstehen begriffen war.
Im Gegensatz zu den meisten digital gespeicherten Aufzeichnungen der Lichtpunkte auf einem Sensor, die wir seltsamerweise noch immer Fotografien nennen, steht ihnen aber kein keck dreinschauendes It-Girl und kein lakonisch grinsender Beau in ihren Selfies vor dem Ruhm, nein, sie sind der Mittelpunkt und das Zentrum und der alleinige Augenmerk auf den Bildern, die nur mittels digitaler Geräte betrachtet werden können. Kolosse aus Stahl und Gummi, betrieben mit Millionen von Jahren alten fossilen Brennstoffen, kontrolliert durch Kabelzüge und einfache elektrische Geräte, die ihre Informationen über Spulen, Magnete und Wellen erhalten, werden sie innert Sekundenbruchteilen zu digitalen Wesen, die ohne digitale Maschinen gar nicht existieren, gar kein Leben mehr in sich tragen würden.
Das alles berührt sie ebenso wenig wie der Lärm der an das Grundstück des Schulbücherlagers angrenzenden Steinsägerei, die seit den frühen Morgenstunden den gleichen riesigen Block weissen Gesteins in auf einer Baustelle für eine Mauer oder einen Fussboden verwendbare Stücke zerteilt, oder die Tatsache, dass der nächtliche Regen an ihnen nur den Rost nährt, der die Absplitterungen des Lacks noch zahlreicher macht. Überhaupt berührt ein solches Gefährt nichts, denn es hat nur in der menschlichen Fantasie eine Seele und nur in kindlicher Abstraktion Gefühle.
Aber es lässt sich wunderbar darüber schreiben und sinnieren.
Währenddessen spielt Lorenz in einem ungenutzten, von einem grossen, vierstöckigen, nagelneuen Pizzaofen und einer massiven Teigknetmaschine dominierten Raum mit einem Schulbuchverlagsmitarbeiter seit gefühlten Tausend Stunden Backgammon und vertreibt sich so auf seine Art die Zeit des Wartens auf das Visum.
Dass die английский (englischen) Zigaretten in Usbekistan pro Paket weniger als einen Schweizer Franken kosten lässt deren Verbrauch auch bei gesundheitsbewusstem Umgang mit dem Suchtmittel wenigstens den Geldbeutel nicht viel leichter werden. Würden sie mehr kosten, könnten sich nur die Touristen Raucherwaren leisten, denn der Vizedirektor des Schulbuchverlags verdient zum Beispiel gerade einmal umgerechnet 100 US$ pro Monat. Hier wird das Gehalt übrigens nicht vom Arbeitgeber ausbezahlt, sondern vom Staat, der die Steuern in der Höhe von eta 8% vorgängig abzieht.
Der Garten des Geländes wird von einem der Mitarbeiter liebevoll gepflegt. Da wachsen viele Rosen, es hat Aprikosenbäume, deren Früchte trotz ihres minderwertigen Aussehens exzellent schmecken, und Weinreben, deren längliche Früchte bereits ansehnliche Grösse haben.
Und da sind zwei kleine Hunde, die uns ins Herz geschlossen haben, sich aber nicht ganz an uns heran wagen.
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