Ein Stadt-Tag. Zu Fuss. Gemütlich. Nach den vielen Kilometern gestern eine willkommene Abwechslung.
Zuerst verabschiedeten wir uns von den türkischen Fenrfahrern, mit denen Lorenz gestern Backgammon gespielt und gegessen hatte – er schenkte ihnen die paar georgischen Lari, die wir noch hatten, damit sie sich auf dem Weg in die Türkei vielleicht ein Abendessen gönnen könnten...dann liessen wir uns von der Chefin des Autokombinats, wo unser Muni abgestellt blieb, die Adresse aufschreiben, um sie später einem Taxifahrer zeigen zu können um wieder zurück zu gelangen...und machten uns zu Fuss Richtung Zentrum.
Das Ziel war ein Museum einer Kriegsheldin, die mit 17 Jahren, im Jahr 1942, freiwillig und unbedingt zur Armee wollte und sich zuerst bei der Luftwaffe als Pilotin meldete. Das ging ihr aber zu langsam, denn das Training dauerte mehrer Monate...also wählte sie die Funktion einer «Sniper», also Scharfschützin und brachte es in ihrem kurzen Leben – sie starb mit 19 – auf eine sehr grosse «Kill-Ratio», wurde dadurch berühmt und posthum zur Kriegsheldin gekürt. Sie stammt aus Актобе und wird noch heute verehrt. Ein Museum ist ihr gewidmet – und das wollten wir uns antun. Meine Motivation war nicht eine Faszination für die Tätigkeit der Frau oder des Krieges - beides verabscheue ich – sondern ich wollte schauen, wie diese Person museal umgesetzt wird.
Fernheizungsrohre |
Das Autokombinat liegt an einer grossen Strasse, die ins Industriequartier führt, welcher wir erst einmal folgten. Tante Google half uns mit ihren Mappen und ein Steg über die in allen ehemals sowjetischen Städten vorhandenen Fernheizungsrohre ermöglichte uns, eine Abkürzung zu nehmen. Diese grossen, etwa anderthalb Meter im Durchmesser messenden, Rohre, die in seltsam anmutenden eckigen Schlangenlinien neben die Strassen verlegt sind, haben eine heute brüchige und an vielen Stellen herunterhängende Isolation. Sie kommen von der Schwerindustrie und von Kraftwerken, die meist mit nicht wirklich klimafreundlichen Brennstoffen betrieben werden. Und sie sind städtebaulich eine Katastrophe, teilen sie doch ganze Quartiere ab und verunmöglichen direkte Verbindungen. An wichtigen Strassen sind sie zu Bögen hochgezogen, was die Erscheinung nur noch abstruser macht.
Abu’I-Chair Khan vor einem Regierungsgebäude |
So kamen wir auf relativ kurzem Weg direkt in die Stadt – als erstes begrüsste uns ein klotziger Politbau, heute glaub eine Parteizentrale, in typischer Sowjetarchitektur, dessen Zwillingsbau am Ende einer grosszügigen Anlage mit Kinderspielplatz, Pavillons und Grünflächen stand.
Dort sprach uns ein junger Mann in perfektem Amerikanisch-Englisch an und fragte, ob er uns helfen könne. Er trug eine Armee-Uniform und erklärte uns, dass er einen Tag pro Woche in der Schule Armee-Training habe. Da lerne er marschieren und solches Zeugs. Mehr wollte er nicht ins Detail gehen. Wir setzten uns mit ihm auf der vielen Bänke und sprachen längere Zeit über ihn, uns, unsere Familien, und seine Pläne: er wird bald in die USA reisen, wo er zur Schule gehen wird...er habe einen Austauschplatz gewonnen. Er fragte uns, wie es unsere Familien aufgenommen hätten, dass wir so lange von zu Hause weg seien...das ginge in seiner Familie niemals...seine Mutter würde seinen Vater nicht so lange weggehen lassen. Es war gar nicht einfach, ihm unsere Situation auf verständliche Weise zu erklären. Zu gross sind die gesellschaftlichen Unterschiede unserer Kulturen. Er lud uns zum Abschied zum English-Speaking in eine Bibliothek ein, was wir in Betracht zogen...aber das restliche Programm des Tages hat es dann verunmöglicht.
Moschee mit Einkaufszentrum - Einkaufszentrum mit Moschee |
Nach weiteren Schritten Richtung Museum – diese Städte sind sehr grosszügig angelegt und man ist zu Fuss lange unterwegs – fanden wir ein Restaurant, dass sogar draussen Tische und Stühle bereit hielt, die aber nicht besetzt waren. Solche Strassencafés sind hier sehr selten – sie Leute scheinen sich nicht gerne draussen hinzusetzen und gemütlich bei einem Tee oder Kaffee dem Treiben zuzuschauen.
Fussball gibt's auch in Aqtöbe |
Viel beliebter sind Restaurants mit verspiegelten Fenstern, wo man nicht sieht, wer drin sitzt. Mir kommen diese Orte jeweils eher unsympathisch vor, drinnen sind sie oft kühl und karg eingerichtet und klimaanlagengekühlt. Wahrscheinlich ist die Zeit, in der man draussen sitzen kann relativ kurz hier: im Winter ist es definitiv zu kalt und im Sommer viel zu heiß. So kann sich natürlich eine Strassenkaffee-Kultur schlecht entwickeln.
behäkelte Bäume vor dem Restaurant |
Wir fanden den Ort des Museum – aber dort war nur eine Baugrube. Darauf waren wir vorbereitet, denn im Kasachstan-Führer, den Lorenz auf der kasachischen Botschaft in Bern erhalten hatte, war angedeutet, dass das Museum in nächster Zeit an einen anderen Ort umziehen würde. Auch diesen Ort fanden wir – aber das Museum war geschlossen! So ein Mist! Wir klopften an die Tür und an die Fenster (drinnen lag eine offene Handtasche...da musste jemand sein!)...und prompt kam eine Angestellte und eine junge Passantin kam spontan dazu – wieder perfekt Englisch sprechend – um zu helfen beim Übersetzen.
So erfuhren wir, dass heute Museumsnacht in Актобе ist und wir doch ab 19 Uhr wieder kommen sollten. Auch gäbe es ein Museum für lokale Geschichte, das wir mit einem Taxi erreichten, von denen es hier erstaunlich wenige gibt. Dafür gibt es sehr viele Busse. Die zehnminütige Fahrt kostete umgerechnet CHF 1.10...aber auch dieses Museum war geschlossen. Permanent. Das Gebäude sah sehr baufällig aus und innen konnten wir viel Staub erkennen.
Park mit Kinderattraktionen |
Also streiften wir ein wenig durch dieses Aussenquartier und fanden einen Park, wo wir an einem Stand etwas zu Trinken kauften und uns auf eine Bank setzten. Es gab einen Vergnügungspark für Kinder, wo Karussells, eine kleine Eisenbahn, verschiedene Buden und Stände abwechslungsreiche Unterhaltung boten. Auch dort kam ich ins Gespräch mit einem Kasachen, der aber leider nur wenig Englisch beherrschte – und mit Tante Googles Übersetzer kam kein richtiges Gespräch zustande.
farbenfrohe Architektur auf dem Heimweg |
Irgendwann wurde die Sonne brennend und wir entschlossen uns, zurück zum Autokombinat zu gehen – auf dem Weg fanden wir einen Baumarkt, der uns die seit langem gesuchten Gitter als Schutz vor den Scheinwerfern bescherte...ein sehr freundlicher Taxifahrer kutschierte und dann zurück zu unserem Standplatz.
Die Kinder sichern die Baustelle, während die Papis in die Kanalisation gucken |
Der Baumarkt, Lorenz und das Gitter |
Ich hatte vergessen, meine an den Gurt befestigte Kamera vor dem Einsteigen zu prüfen und verlor sie prompt auf dem Sitz...und beim Verabschieden und Vereinbaren seines Wiederkommens zwecks Transport zum Aliya-Museum – eben diesem Museum über die Kriegsheldin – liess ich sie auf dem Rücksitz liegen. Jetzt hoffe ich auf seine Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit und freue mich schon, ihn um 19 Uhr wieder zu sehen...nein...eigentlich freue ich mich auf meine Kamera.
...und er brachte sie zurück!
Wir drückten ihm einen stolzen Finderlohn in die Hand und bedankten uns herzlich. Für mich hat sich mein positives Denken bestätigt und die Überzeugung, dass die Menschen ehrlich und rechtschaffen sind, hat sich erhärtet. Leider konnte er uns wegen des Endes seiner Schicht nicht in die Stadt fahren, so nahmen wir ein anderes Taxi.
Museumsabend beim Aliya Moldugalova-Museum |
Wir kamen genau zum richtigen Zeitpunkt beim Aliya-Museum an: die feierliche Eröffnung der Ausstellung an der heutigen Museumsnacht begann just als wir aus dem Taxi ausstiegen. Eine etwa einstündige Zeremonie mit Reden, Gesangs-, Tanz- und Theaterdarbietungen, mit Ehrungen und Lobeshymnen ist scheinbar Programm. Wir lernten einige sehr freundliche Menschen kenne, darunter den Afghanistan-Veteranen Gura, den Sohn einer Kampfgefährtin von Aliya Moldagulova, die Museumsdirektorin und andere Anwesende. Die ganze «Show» wurde von Frauen durchgeführt, die meisten in Armee-Uniformen, viele davon sahen hinreissend aus.
Das Publikum war recht zahlreich und nach dem offiziellen Teil auf der Strasse vor dem Gebäude wurde das Museum gestürmt. Die Ausstellung ist sehr vielseitig. Es werden Erinnerungsstücke von Aliya und ihren Kampfgefährten gezeigt, da liegen Helme mit Einschusslöchern, es sind Dioramen und verschiedenste Utensilien aus dem täglichen leben einer Scharfschützin präsentiert und mit Brifen, Fotos und Souvenir-Exponaten ergänzt.
Kinder durften an einem Zeichnungstisch ihren Gefühlen freien Ausdruck verleihen und in einer Ecke war eine Kriegslieder-Karaoke-Installation, die rege benutzt wurde und mit ihrer Lautstärke einem das Reden erschwerte.
Eine Journalistin interviewte mich – wahrscheinlich werde ich als Schweizer Besucher der Museumsnacht in der lokalen Presse portraitiert – und das Fernsehen war auch vor Ort. Ein grosser Aufmarsch für einen lokal scheinbar wichtigen Ort.
Антрекот (Entrecote) |
Wir stillten unseren Hunger in einem modernen Restaurant an der nächsten Kreuzung. Das Essen war sehr lecker aber leider nur lauwarm...und das Bier schmeckte an diesem Abend besonders gut, während draussen die Nacht hereinbrach und ich vom bequemen Sofa aus ein paar Nachtaufnahmen schiessen konnte.
Nachtaufnahme aus dem Restaurant |
Museumsnacht im Kunstmuseum |
Anschliessend besuchten wir noch das Kunstmuseum, in dem von Zeichnungen im Comic-Stil über eine Video-Installation und Skulpturen bis zu einem Raum vollgehängt mit Origami-Schwänen, zwischen denen sich die Besucher eine Selfie-Schlacht boten, ausgestellt. Die Stimmung war ganz anders als in unseren Museen sehr locker, die Leute fassten die Kunstwerke an und schienen keine Berührungsängste mit den Exponaten zu haben. Im Erdgeschoss lief Rockmusik aus einer Musikanlage und die Räume waren mit farbigem Licht ausgeleuchtet, so dass eine Art Jahrmarktstimmung aufkam.
Unsere Müdigkeit zwang uns bald zum Gehen und ein weiterer freundlicher Taxifahrer chauffierte uns zielsicher zum Автокомбинат #1, unserem Standplatz im Autokombinat 1.
Was für ein Tag! Was für eine perfekte Reiseorganisation durch das Büro «Lorenz' Abenteuerreisen nach Zigeunerart»!
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