Voraussichtliche Reisedaten

Mittwoch, 8. Mai 2019

8. Mai 2019 | Vom Vorbereiten einer Reise und vom Reisen ins Unvorbereitete | by Lorenz

Meine Vorbereitungen für diese Reise gen Osten zeichneten sich vor allem durch den (Über-)Mut zur Lücke aus. Das hat sich nun gerächt, jedoch im durchaus positiven bzw. umgekehrten Sinne gemeint! Warum? Davon berichte ich Euch aus meiner Sicht:

Das russische Gesetz änderte sich Ende letztes Jahr und es gilt beim Grenzübertritt neu: Ein Mann – Ein Fahrzeug. Das habe ich nicht gewusst. Trotz ca. 9 Stunden Wartezeit bei eisigem Wind vor dem schuhschachtelgrossen Grenzpostenfensterchen und den redlichen Bemühungen von zwei Schichten Grenzbeamten mit unterschiedlichsten Sternchenanzahlen auf den Schultern schickte man uns mit samt unseren drei Fahrzeugen zurück nach Georgien. Einreise unmöglich. Zum Glück! Denn nur so durfte ich nachfolgend Beschriebenes erleben…

...dass der durchaus nicht erfreute, leicht grimmige und eher schmallippige georgische Grenzpostenchef Giorgi mir eine Telefonnummer in die Hand drückte und meinte: Call! No problem.
...dass mir die georgische Tourist-Info-Mitarbeiterin bereitwillig ihr Handy auslieh, um den Anruf zu tätigen...no problem.
...dass daraufhin Zurab und sein Sohn Rati nach einer 2 stündigen Fahrt von Tbilisi her kommend im strömenden Regen auftauchten und wir kurzerhand dem Sohn das Motorrad zum 17. Geburtstag schenkten und dem Vater den Anhänger.
...dass sie abends mit prallgefüllten Schachteln voller georgischer Leckereien und Bier auftauchten und wir im Muni einen gemütlichen Abend voller Geschichten über die Kultur, die Gesellschaft, das Leben und unserer Familien verbrachten.
...dass wir am nächsten Tag gemeinsam nach Tbilisi aufbrachen, um die administrativen Formalitäten für die Fahrzeugübergabe zu regeln – no problem - und ich dabei die sicheren Fahrkünste von Zurab erleben durfte, der seinen rechtsgesteuerten Wagen halsbrecherisch über einen 2350 Meter hohen Pass trieb, erst durch den strömenden Regen, später durch Schneegestöber, meterhoch spritzenden Schneematsch, vorbei an lichtlos dahinkriechenden Schwertransportern und einer Kraterlandschaft von Schlaglöchern, bei denen jeder Planet aalglatt erscheint. Dies alles, wie mir Surab erst in Tbilisi gestand, with summer tires, no problem.
...dass georgische Gastfreundschaft bedeutet, dass 8 Menschen in einer 3-Zimmerwohnung so zusammenrücken, dass ich in einem Doppelbett schlafen durfte, und der Rest der Familie – inklusive dreier Katzen und zweier Hunde teilweise auf Luftmatratzen im Gang campierte.
...dass man, wenn man den georgischen Schuhladenbesitzer Zurab nach Schuhputzmittel fragt, um die eigenen, schmutzigen Wanderschuhe zu reinigen, kurze Zeit später mit einem Paar nigelnagelneuer Street-Schlüpfern inklusive frischer Socken an den Füssen dasteht.
...dass mir, nachdem ich meine leere Zigarettenschachtel im Küchenmüll entsorgt hatte, die tropfnasse Gastgeberin Nari sogleich bei strömendem Regen am Kiosk eine um die Ecke gekaufte neue Schachtel inklusive neuer Zahnbürste und Deospray in die Hand drückte.
...dass wir uns bei köstlichem Wein, Trinksprüchen in allen Sprachen und leckersten Speisen bis tief in die Nacht eine spannende Backgammon-Partie lieferten.
...dass wir sonntags zur Segnung des Familiennamens von Zurab – Maglaperidze - die von einem Milliardär gesponserte Kirche Sameba besuchten, von Weihrauch berauscht polyphonen Gesängen lauschten, an der Kirchenpforte mausarmen Menschen Kerzen für unserer Familie abkauften und hinter der Kirche die millionenschwere Fahrzeugkolonne des Patriarchen Illia II. bestaunten – welche im lokalen Jargon als „Church Chrysler“ bezeichnet.
...dass ich anlässlich dieser Segnung am nachfolgenden Familienfest eingeladen war, wo über 100 Menschen in einem festlichen Saal Speis und Trank genossen, bis sich die aufgetragenen georgischen Köstlichkeiten auf vier (4!) Etagen in der Mitte jedes Tisches auftürmten, wobei zwischendurch ausgelassen getanzt und gesungen wurde.
...dass man zur Erledigung administrativer Papiere ohne Termin auf gut Glück zu einem Notarius mit Deutschübersetzerin fährt, um 6 Stunden stoisch zwischen Bürotüren, überfüllten Wartezimmern und einer Fahrt auf dem rostigsten Riesenrad meines Lebens wartet und der georgische Mensch dabei immer die Ruhe selbst bleibt. No problem.
...dass Tbilisi by Night und auf dem Fahrrad ein Ritt für sich ist, bei welchem die Aussenquartiere der Stadt und die darin verborgenen Pärke in vielfältig und verspielter Weise beleuchtet der Stadt noch einmal ein ganz neues Gesicht geben.
...dass es für die Gesundheit des Ungeübten besser ist, zu dieser vorgerückten Stunde mit einem kundigen Georgier unterwegs zu sein, weil man sonst von dessen bereits angeheiterten Freunden durchaus gastfreundlich links und rechts unter den Armen gepackt direkt in einen Karaoke-Club entführt wird mit den wildesten Versprechen – georgian girls...beautyful,...georgian marihuana...the best, georgian wine...must try...no problem.
...dass es unmöglich ist, in einem Restaurant eine Runde zu bezahlen, weil die georgische Bedienung einem zu verstehen gibt, dass sie kein Geld von einem Ausländer annehmen kann, wenn ein Georgier am Tisch sitzt.
...dass die Rückfahrt von Tbilisi mit einem Abschleppwagen aus der deutschen Vorkriegsgeneration, welcher vermutlich ganz sicher nicht mehr über irgendein Serviceheft verfügt, funktionierten doch überhaupt keine Anzeigen mehr, der Tankinhalt musste mit einem Stock vom Strassenrand gemessen werden und die Lichtstärke bei Volllicht entsprach den Lumen von zwei IKEA-Teelichtern – hinter trübem Milchglas...no problem.
...dass man am Zoll bei der Ausreise aus Georgien bis zuletzt nicht sicher ist, ob wegen der Ausreise ohne Anhänger und Motorrad, problem oder no problem, vor allem wenn man endlich durchgewunken schon fast auf russischem Territorium im Rückspiegel einen rennenden und gestikulierenden Zollbeamten ausmacht, dem doch noch ein Papier fehlt, welches wir leider nur für den Anhänger, nicht aber für das Motorrad haben...also problem...was in der Hitze des Gefechts und angesichts des Papierbündels glücklicherweise sogar dem Zöllner nicht auffällt also no problem und wir uns danach schleunigst aus dem Staub machen und erst aufatmen, als uns der russische Zöllner mit einem freundlichen good luck...daway...endlich nach Russland einreisen lässt.
...und dass es toll ist, mit Xoff einen Mitreisenden an der Seite zu wissen, der auch bei widrigen Bedingungen tapfer die Stellung auf 1700 Meter mitten im stürmischen Kaukasus hält!

Diese erlebnisreichen Tage in Tbilisi zusammen mit der Familie von Zurab, Nari, ihren Kindern Rati und Nina, all seinen Freunden und Verwandten, bilden für mich das Herz und die Seele einer Reise ins Unbekannte. Nichts davon ist planbar und kein Internetforum oder Lonely Planet weisen einem den Weg dazu. Dazu braucht es einfach Vertrauen in den glückbringenden Zufall, wenn sich Menschen aus verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen wohlwollend und interessiert begegnen. Mein grosser Dank geht deshalb an Zurab und seine Familie, für ihre unendliche, georgische Gastfreundschaft, an meine Eltern, Elisabeth und Thomas, welche mir dieses zigeunerhafte Reisefieber in die Wiege gelegt haben und an meine liebste Familie, Anne-Sophie, Eva und Max, mit welchen ich gemeinsam so bereits die weite Welt entdecken durfte!

In diesem Sinne reise ich sehr gerne ins Unvorbereitete und bin mit meinen Handkarten im Massstab 1:650'000 ganz zufrieden, denn falsch Abbiegen gibt es nicht, es ist einfach nur ein anderer Weg, und dieser Weg ist eben das Ziel. Problem? No problem!



1 Kommentar:

  1. Lieber Lorenz, es freut mich, dass du Georgien von dieser Seite kennenlernen durftest! Deine Beschreibungen haben in mir viele Erinnerungen geweckt an meine ersten Besuche in Georgien - und noch heute liebe ich dieses Land mit seinen skurrilen Situationen und liebenswerten Menschen. Obwohl ich früher leidenschaftlich *reiste* verspüre ich seit meiner Begegnung mit Georgien kein grosses Verlangen mehr, andere Länder zu besuchen. Das täglich Verdauen des hier und jetzt hält mich auf Trab... ;-)

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