Mittlerweile ist abends 20 Uhr und Lorenz ist noch immer nicht zurück vom Notar in Tiflis. Die Fahrt dauere rund zweieinhalb Stunden, also hin und zurück rund 5 Stunden. Zwei Stunden beim Notar. Eine bis zwei Stunden für Pausen, Verpflegung und Warten. Macht insgesamt maximal 9 Stunden. Eigentlich müsste er nächstens auftauchen.
Meine Hauptbeschäftigung am heutigen Tag war, mich warm zu halten, was gar nicht so einfach ist, will man nicht dauernd im Restaurant sitzen und konsumieren. Die ganze Zeit den Generator laufen zu lassen um ein bisschen Wärme aus dem Heizlüfter zu erhalten ist ökologisch gesehen ein Wahnsinn, ausserdem weiss ich nicht, wie lange der Diesel im Generator-Tank noch reicht.
Also zog ich die zum Glück eingepackte Odlo-Skiunterwäsche unter, streifte alle Jacken über, die ich finden konnte, schnappte mir den Schirm, zog die Wollmütze tief über den Kopf und machte einen ausgedehnten Spaziergang durch das Dorf und die nähere Umgebung. Die Hände waren schnell klamm vom Halten des Schirms und die Knie begannen sich als erstes kalt anzufühlen, dann die Zehen unter den Stahlkappen der Arbeitsschuhe, die glücklicherweise wasserdicht sind. Immer wieder mal ein Foto, wobei sich die Sujets im wolkenverhangenen Tal in Grenzen hielten und das Grau-Weiss der immer tiefer herab schneebedeckten Hügel und den daran gebauten Häuser nicht viel hergab.
Heute ist ein weiterer Reiselastwagen angekommen, aus Deutschland, aus der Gegend von Hamburg. Leider traf ich die Besitzer, die Reisenden, nicht an, aber Sascha, den ich gestern schon mit seiner Frau Rina und den beiden Jungs Bjarne und Thies in einem umgebauten Mercedes-Siebeneinhalbtönner angetroffen hatte, sagte mir, es sei ein Paar, das quasi in diesem Laster wohne und dauerhaft auf Reisen sei. Das Fahrzeug selber, ein MAN TGM 13/290, sandgelb, sah sehr professionell aus. Es ist ein extra aufgebautes Fahrzeug wie ich sie auch schon auf verschiedenen Webseiten bestaunt hatte. Auf der Beifahrertür prangten 37 Länderflaggen, von denen ich einige gar nicht kannte. Sie mussten schon weit gekommen sein, China war sicher dabei. Sehr gern hätte ich das Fahrzeug von Innen gesehen, nicht um es mit unserem zu vergleichen, denn das ist eine ganz andere Klasse. Wer sich so ein Fahrzeug baut oder kauft macht nicht nur einzelne Reisen, sondern hat sein Leben auf's Reisen, auf's Unterwegssein umgestellt. Bestimmt würde ich ob der technischen Finessen staunen und die Eckdaten des laut Bezeichnung 13 Tonnen schweren und 290 PS oder kW starken LKWs bestimmt beeindruckend finden.
...wer kennt alle Nationen ohne nachzuschauen - ich nicht! |
Die Vorstellung jedoch, dauernd, immer, Jahr für Jahr unterwegs zu sein reizt mich nicht, erst recht nicht wenn ich hier auf 1700 m.ü.M. in einem georgischen Grenzdorf festsitze und auf die Gunst der Zollbeamten angewiesen bin. Oder wenn ich für den Kontakt zur Heimat in Restaurants, Cafés oder Bars gehen muss, wo Musik läuft, die mich nicht anspricht und wo die Angestellten mich schräg anschauen, wenn ich meinen Computer zücke und einen vorbereiteten Blogeintrag hochladen will. Und dauernd irgendwelche Getränke zu bestellen um sie nicht zu erbosen und meinen Sitzplatz und die Benutzung ihres WLANs zu rechtfertigen stösst mit der Zeit an die Grenzen meiner Blase. Ausserdem ist der Tee, den ich selber braue, um Welten besser als jeder, den es in einem beliebigen Etablissement käuflich zu erwerben gibt.
Vielleicht haben sie ja eine perfekt eingerichtete Kommunikationszentrale in ihrem Gefährt, das an jedem Ort der Welt eine leistungsfähige Internetverbindung garantiert, je nachdem über das GSM- oder das Satellitennetz. Vielleicht sind sie komplett autark, mit Wasseraufbereitung, Energiezentrale, Solarzellen und unbeschränkter Zentralheizung. Selbst dann würde es mich nicht reizen, denn mir fehlen bereits jetzt – oder jetzt immer noch, je nachdem wie man es anschaut – die realen Kontakte zu Menschen, die meine Sprache, Baseldeutsch, sprechen und verstehen, zu Menschen, die mir lieb sind und mich mein Leben lang oder zumindest einen grossen Teil davon begleitet haben.
Mir würde die Kultur fehlen, die mir lieb und teuer ist, der Wechsel der Jahreszeiten (auch wenn ich mich zu Hause oft über das «schlechte» Wetter beklagt habe), die Regelmässigkeiten wie die wöchentliche Trommelstunde zu der ich bestimmt nicht immer mit Freude gegangen bin, von der ich aber immer mit einem guten und zufriedenen Gefühl heim gekommen bin. Oder schlicht die in gewissem Mass berechenbare Reaktion der Menschen auf jedwelche «Aktionen», das Zurücklächeln wenn ich mit freudigem Ausdruck durch «meine» Strassen gehe, der Anstand beim Anstehen, die Ordnung im Verkehr, schlicht all das «Normale», das die Welt, in der ich gross geworden bin, zu bieten hat und das mir aus der Nähe oft spiessig vorkommt und aus der Ferne behütend wirkt.
Bin ich kein Reisender? Oder habe ich mich schlicht noch nicht an das Reisen über längere Zeit gewöhnt? Bin ich ein Bünzli, ein Kleinbürger, der seine Bratwurst liebt und die immergleiche Pfütze, eine «Stange» zum Trinken bestellt? Oder bin ich zu ungeduldig und kann nicht abwarten, was das Unterwegssein mit mir macht? Muss ich mir noch mehr Zeit, viel mehr Zeit geben, um zu erfahren, was wirkliche Freiheit bedeutet und wie es ist, sich ganz und komplett vom Gewohnten zu lösen?
Nicht dass ich auch nur im Ansatz ans Aufgeben oder Aufhören denken würde, nein, im Gegenteil! Aber ich stelle mir nach knapp einem Monat auf Achse diese Fragen, die ich mir auch am Ende des nächsten Monats stellen möchte.
Einfach nur weg gehen, sich gehen und treiben lassen, das kann jeder. Aber kritisch hinterfragen, andere beobachten, sie kennenzulernen versuchen und von ihnen zu lernen, sich den Ängsten und auch den Gefahren zu stellen und aus der Komfortzone des warmen Wohnzimmers mit Stereoanlage und Sofa oder der Geborgenheit des heimischen Büros mit allen nur denkbaren Kommunikationsmitteln, unbeschränktem Internet und siebenundvierzigtausend Fernsehkanälen auszubrechen und nicht zu wissen, ob und wann ich wieder diesen vermeintlichen Luxus geniessen kann oder ob ich ihn überhaupt wieder geniessen will, ist um einiges schwieriger.
Das weiss ich jetzt.
Ich hatte mich ganz bewusst aus einigen der Annehmlichkeiten der modernen Kommunikationsgesellschaft herausgenommen, nicht weil ich mich dadurch auf diese Reise vorbereiten wollte, sondern weil ich derer überdrüssig geworden war. Fernsehen, Nachrichten, Zeitungen waren mir seit längerem ein Gräuel und ich konnte problemlos seit mehr als einem Jahr komplett darauf verzichten. Auch Soziale Netzwerke reizten mich nur noch um mich in meinem leider darauf ausgerichteten Umfeld zu orientieren und fehlen mir nach einem Monat der totalen Abstinenz überhaupt nicht.
Sobald wir in wärmeren Gefilden und wieder unterwegs sind, wenn es vorwärts geht und ich mir die Zeit nicht an einem unwirtlichen Ort, allein im Lastwagen, auf einem grossen Parkplatz um die Ohren schlagen muss, sind wahrscheinlich auch meine Gedanken wieder ein wenig farbiger und fröhlicher, stelle ich mir nicht mehr diese tiefgreifenden Fragen, sondern labe mich an den hoffentlich am Strassenrand zu findenden Schönheiten und Spezialitäten der Natur und Kultur. Darauf freue ich mich wenn ich mir jetzt ein kleines Abendessen für mich alleine koche, mich dann schlafen lege und hoffe, morgen meinen Reisegefährten wieder zu sehen wo immer er im Moment auch ist.
Und ich hoffe inständig, dass er mit den guten Neuigkeiten zurück kommt, die uns das Weiterfahren ermöglichen.
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