Voraussichtliche Reisedaten

Montag, 27. Mai 2019

27. Mai 2019 | Шыимкент (Shymkent) (KZ)

Eigentlich hatte ich daran gezweifelt, dass der heutige Tag ein guter werden würde, gab es doch zum Frühstück nicht meinen geliebten Schwarztee mit Milch und viel Zucker...aber meine Befürchtungen waren unbegründet…;)

Ein Stadtspaziergang war angesagt.

Vom Hotel an zentraler Lage, gleich beim Freiheitsdenkmal, ging ich in die Turkestan-Strasse, die mich an mehreren Parks vorbei führte, die alle sehr schön hergerichtet und mit vielen Blumen, vornehmlich mit den hier sehr beliebten Rosen, geschmückt waren.

In einem kasachischen Park muss ein Denkmal stehen, sonst ist es kein Park!
Entweder ist es ein bedeutender Mann der Geschichte oder ein Künstler, der dargestellt ist – oder es handelt sich um Denkmale für die Unabhängigkeit oder den 2. Weltkrieg.









2. WK-Kriegs-Memorial
Das Kriegsmemorial, wo die über 140'000 kasachischen Toten des 2. Weltkriegs aufgeschrieben sind und geehrt werden, ist besonders eindrücklich. Eine klassische Architektur, grosse zentrale Achse, ein MIG-Jet, in schwarzen Marmor gemeisselte Namen, viele Rosen, eine ewige Flamme und – ganz wichtig! - eine sehr hohe säulenartige, in den Himmel stechende Skulptur ergeben das typische Denkmal.






über 140'000 Tote aufgelistet

Ewige Flamme zu Ehren der Gefallenen

Fotoausstellung
Ein wenig versteckt, neben der MIG, steht eine sehr schöne Fotoausstellung mit Portraits von 2.WK-Soldaten, alles alten Männern und Frauen, in ihrer Sonntagskluft und mit Orden geschmückt. Sie haben vom Leben gezeichnete Gesichter, vielen scheint man die Strapazen und Greuel anzusehen, einige tragen noch immer Wunden und wenige wollten sich offensichtlich nicht von vorne ablichten lassen.







Museum für politisch Verfolgte
In krassem Gegensatz zum Kriegsdenkmal in sowjetischer Manier – obwohl es erst nach der Unabhängigkeit errichtet worden ist – steht das gleich gegenüber liegende Museum für die politisch Verfolgten. Hier wird das unendliche Leid und Unrecht, das während der Sowjetzeit diesem Land und seinen Bewohnern angetan wurde, in direkter und offener Weise dargestellt.







Prominente Opfer der Verfolgung
Kasachstan war sehr stark von den Umsiedlungsaktionen, den Säuberungen, dem Zwang und den Repressalien der sowjetischen kommunistischen Besatzung unter Stalin und auch noch danach betroffen.











Diorama eines Massakers in einem Dorf
Hier wurden systematisch alle kritischen und nicht linientreuen Menschen inhaftiert, gefoltert, umgebracht...und ihre Familien gleich mit. Für die Frauen der politisch und kulturell aktiven Männer gab es eigene Gulags (in Deutschland nannte man solche Lager Konzentrationslager), oft wurden ganze Dörfer ausgelöscht oder umgesiedelt. Der grösste Gulag mass fast 3 Millionen Hektaren (3000 Quadratkilometer) in der Region Akmolinsk/Karaganda! Hinzu kam, dass viele andere Volksgruppen aus dem Einzugsgebiet der UdSSR hierhin umgesiedelt wurden, dass den Nomaden vorgeschrieben wurde, sie müssten sesshaft werden, dass die Kultur, die Sprache und die historischen und religiösen Stätten einfach ausgelöscht wurden.
«Kasachische Tragödie»
Neben den vielen Tausend, die in den Gulags unter den schrecklichen Lebensbedingungen, der Zwangsarbeit, der Folter und willkürlichen Erschiessungen umgekommen sind, verhungerten über 2 Millionen Kasachen noch vor dem 2. Weltkrieg weil die gesamte landwirtschaftliche Infrastruktur zerstört und die alten nomadischen Weidezüge verboten worden waren.
















Missetäter im Hintergrund
Monumentale Grausamkeit im Vordergrund
Mir war in diesem Museum gar nicht wohl, obwohl ich fast nichts verstanden habe von dem, was in der Ausstellung selber geschrieben steht. Der englische Führer ist sehr informativ und gibt einen guten Überblick über die Vorgänge….die Details sind aber alle in kasachisch und russisch gehalten, so dass mir wahrscheinlich das Schlimmste erspart geblieben ist.
Draussen vor dem Museum setzte ich mich zuerst auf eine Bank und musste das Erlebte sacken lassen, bevor ich mich wieder in die lebendige und farbige Stadt begeben konnte.

Mein nächstes Ziel war eine Fussgängerzone und der Weg dorthin führte mich durch Quartiere mit vielen verschiedenen Universitäts-Instituten. Junge Menschen in guter, westlicher Kleidung überall, viele sprachen gut Englisch und ich kam mit einigen ins Gespräch. Besonders interessant waren für mich die Kontakte vor der Pädagogischen Hochschule, wo ich einiges über die Ausbildung der Lehrer erfuhr, die im Grunde sehr ähnlich wie bei uns abläuft.

typisches Strassenbild
Hier sind die Mittelstreifen der Strassen begrünt, es hat viele Läden und Restaurants und nur wenig unterscheidet die Szenerie von europäischen Städten. Der Schweizer würde wahrscheinlich sagen, es sei hier viel schmutziger als bei ihm zu Hause. Und es wird überall gebaut. Das Land ist offensichtlich in einer Umbruchphase...nach den Denkmälern und den öffentlichen Gebäuden sind jetzt die Strassen und Gehwege dran, werden Wohnhäuser renoviert und neu gebaut und schiessen Läden mit den typischen Produkten der Moderne aus dem Boden wie die Pilze bei warmem Regenwetter.
Der Kontrast zwischen der Auslage in den Regalen und dem Zustand der Gebäude ist zuweilen grotesk und die farbig leuchtenden Reklametafeln vor den baufälligen Fassaden sprechen eine eigene Sprache.
Immer wieder sitzt eine alte Frau an einer Ecke und verkauft Käsebällchen oder Kamelmilch.
Oder man sieht ganze Sippen vor dem Kontor eines Нотариус («Notarius», Notariatsbüro) stehen und diskutieren, gestikulieren und die Köpfe zusammenstrecken.
Bettler sieht man sehr, sehr wenige. Sie sind meistens – wenn überhaupt – in der Nähe der Moscheen zu finden.
Wandmalerei einer stolzen Kasachin
Der Verkehr in den meist breiten, zweispurigen Strassen ist sehr gesittet – vor allem bei Rotlichtern und ganz besonders bei Fussgängerstreifen wird ausgesprochen anständig gefahren und immer angehalten wenn jemand über die Strasse gehen möchte. Als Fussgänger ist man hier sehr sicher. An die Tempolimiten halten sich die meisten – einige rasen jedoch sehr schnell durch die Stadt und erstaunlicherweise passieren sehr wenige Unfälle...weniger jedenfalls als bei uns. Auch wenn es oft nicht so aussieht und der Verkehr auf den ersten Blick chaotisch wirkt: die können echt autofahren!

Das Mittagessen genoss ich in einem Restaurant mit Garten, wo ein paar Wellensittiche sich beim Trällern übertreffen wollten (einer machte gekonnt den scheppernden Getränke-Kühlschrank nach und schien mit diesem zu kommunizieren) und wo Studenten und Geschäftsleute assen und Pause machten. Meine Lieblingssuppe (Bouillon mit einer Art Ravioli) und ein frischer Salat mit Gurken und Tomaten, dazu Хлеб («Chleb», Brot) war genau das Richtige.

Eingang zur Fussgängerzone
Nur wenige Strassen weiter kam ich zu einem Themenpark mit Fussgängerzone, wo über die Strasse gespannte Installationen, die abends erleuchtet werden, ein künstlerisches Flair verbreiten. 












Haus steht auf dem Kopf
Im Park nebenan werden verschiedene Attraktionen angeboten – unter anderem hat es eine riesige Rollschuhhalle, eine Rutschbahn für Kinder, ein Riesenrad, eine Achterbahn und Dutzende kleiner Fahrgeschäfte und Spielstände. Auch hier steuern Väter und Mütter ihre Kleinen in ferngesteuerten SUVs durch die Strasse...das scheint DER Renner zu sein.







Rollschuhhalle

Themenpark

In dieser Fussgängerzone sah ich zum ersten Mal westliche Touristen – eine amerikanische Reisegruppe labte sich beim Kaffe-Stand mit WiFi, während der Mini-Eiffelturm vor dem «Café Paris» die jungen einheimischen Frauen zu Selfies und Fotoposen animierte.

auf dem Rückweg ein Blick auf die südliche Bergkette
Alles in allem ein gelungener Tag in einer lebendigen, farbigen Stadt bei sehr warmem Wetter, so dass ich den Schatten folgen musste um nicht allzu sehr ins Schwitzen zu kommen. Das Einzige was mir persönlich gefehlt hat sind die alten Häuser einer verwinkelten Altstadt...aber hier ist das älteste Haus keine Hundert Jahre alt und die Architektur und der Städtebau dürften im Grunde diese Namen gar nicht tragen, es ist eher Wildwuchs als geplante Bauerei, habe ich das Gefühl, was kein Wunder ist, ist Shymkent in den vergangenen 15 Jahren von 400'000 auf 800'000 Einwohner gewachsen (und das sind die offiziellen Angaben...die Dunkelziffer dürfte einiges höher liegen). Aber das sind Details, auf die nur ein vielleicht allzu kulturbeflissener Tourist achtet, und sie beeinflussen das positive Lebensgefühl und die Lebensart der Einheimischen in keiner Weise. Gerade wenn ich in Betracht ziehe, wie die unmittelbare Vergangenheit dieses Landes aussieht, ist es erstaunlich, dass das Zusammenleben so friedlich ist und die Stadt und das Land sehr gut funktionieren. Was hier steht und passiert ist nicht über Jahrhunderte gewachsen, sondern aus den Trümmern der letzten Jahrzehnte entstanden...und das ist sehr erstaunlich und ziemlich grossartig.

Der Abend war schlicht grossartig!
Ich ging zurück in das Quartier, in dem ich am Mittag bereits war, da dort viele Restaurants lagen und ich das – richtige – Gefühl hatte, dass dort am Abend die Menschen ausgehen. Was für ein Leben! Die Strassen waren voll von Menschen, die flanierten, sich in Cafés trafen, mit ihren Kindern im Park spielten und viele junge Paare verabredeten sich offensichtlich dort zu Rendez-Vous.
In dieser Stadt hat es sehr viele junge Frauen, viel mehr als Männer...zumindest auf diesen Strassen. Die Paare halten Händchen, die Frauen sind sehr hübsch und haben sich für den Abend herausgeputzt. Von der Aufmachung her unterscheiden sie sich kaum von denen in unseren Städten – ich habe sogar das Gefühl, sie gäben sich mehr Mühe und sind oft stilvoller gekleidet, dafür viel weniger geschminkt und folgen weniger dem Diktat der Mode, sondern haben ihren eigenen Stil. Die jungen Männer sind – wie bei uns – relativ unscheinbar mit T-Shirt und Hose und Turnschuhen (sorry, Sneakers) im Einheitslook angezogen. Für eine Stadt, in der über 80% Moslems sind, bietet sich auf diesen Strassen ein erstaunliches Bild. Sehr selten sieht man Frauen mit Kopftuch...verschleierte Frauen habe ich gar keine gesehen.
Ich fand ein tolles Restaurant und gönnte mir ein superleckeres Steak in einer «Soul-Kitchen», einem westlichen Restaurant. Zur Abwechslung mal etwas anderes...und es schmeckte exquisit! Die Bedienung, eine junge Frau, sprach perfekt Englisch, welches sie sich selber mit Internet und Online-Sprachkursen beigebracht hatte. Sie betreute mich als Kasachisch- und Russischunkundigen sehr zuvorkommend und professionell. Es war eineFreude!

beleuchtete Engel (Handyfoto...;) )
Auf dem Rückweg durch die Fussgängerzone, wo Tausende von Menschen den lauen Abend genossen, bestaunte ich die jetzt beleuchteten engelhaften Lichtinstallationen und schaute den Menschen zu. Sie wirkten alle sehr locker, fröhlich und genossen offensichtlich ihren Montagabend.

Mein Weg zurück, etwa 3 km, führte mich auch durch weniger belebte Strassen...ich hatte nie das Gefühl in Gefahr zu sein oder mich in Acht nehmen zu müssen. Die Stimmung in der ganzen Stadt ist sehr friedlich und man sieht nirgends Streit oder Leute, die Stress miteinander haben.

Ich bin tief beeindruckt von dieser tagsüber eher unscheinbaren und geschäftigen Stadt und hoffe nun, dass mich die Mücken diese Nacht nicht wieder so heftig umschwirren wie vergangene...ich hatte am späteren Nachmittag mit dem Handtuch Jagd auf diese störenden Biester gemacht und hoffentlich alle erwischt….;)

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